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Vortrag

Das „Spiel der Lüste“ und
die „Ordnungen des Sexuellen“

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Vortrag von Marc-Christian Jäger auf den Linken Buchtagen, Berlin, 05.07.2008

Guten Tag,

mein Name ist Marc-Christian Jäger. Zusammen mit Marvin Chlada bin ich Herausgeber des Aufsatzbandes „Das Spiel der Lüste. Sexualität, Identität und Macht bei Michel Foucault“, welcher diesen Monat beim Alibri-Verlag erscheinen wird. Ich freue mich sehr über die Einladung der Linken Buchtage hier in Berlin.

Bevor ich meine Texte vorstelle, möchte ich Ihnen gerne noch etwas zu den anderen Autoren der Herausgeberbandes sagen. Das sind Mitherausgeber Marvin Chlada, der bereits einige weitere Titel (z.T. auch über Foucault) bei Alibri veröffentlicht hat, Andrea D. Bührmann, der postanarchistische Theoretiker Jürgen Mümken und Annette Schlemm. Von den Genannten ist jede/r mit einem Text vertreten. Ich steuere zwei Texte bei, von denen ich einen Aufsatz („Ordnungen des Sexuellen“) heute genauer betrachten und präsentieren möchte.

Marvin Chlada, Kultur- und Sozialwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, skizziert in seinem Beitrag Foucaults Kritik des Wunschbegriffs, wie er von Gilles Deleuze, Félix Guattari und Lyotard gegen den klassischen Freudomarxismus in Form einer Libidoökonomie ins Feld geführt wurde. Im Gegensatz zu Deleuze und Guattari stellte Foucault nicht Begehren und Wunsch in das Zentrum seines Interesses, sondern den Begriff der Lust. Deleuze und Guattari verstehen die „Verdrängung“ als eine dem Wunsch inhärente Kraft; sie sind bemüht, „aus der immanenten Entfaltung des Begehrens die reaktive, lebensverneinende Haltung von Mangel und Verzicht zu erklären und aufzulösen.“ Chlada stellt fest, dass Foucault dagegen „die Befreiung von der Macht als einen integralen Bestandteil der Macht“ begreift. Die Macht ist nicht allein an Unterdrückung oder Verdrängung der Lust gebunden, sondern die Machtausübung selbst kann auch Lust bedeuten.

Die Physikerin und Philosophin Annette Schlemm schildert in einem kurzen Abriss Foucaults Konzeption einer „neuen Lebenskunst“ mit einem besonderen Augenmerk auf das Subjekt und die Homosexualität. Schlemm erkennt in Foucaults Lebenskunst ein utopisches Potenzial, auch in der Schwulenkultur entdeckte der Machtanalytiker eine Möglichkeit, neue Beziehungen zwischen den Individuen zu erschaffen.

Jürgen Mümken untersucht – Foucault folgend – Max Stirners Werk aus der Perspektive der Techniken des Selbst. Mümkens Beitrag „Wer bin ich? – Was bin ich?“ stellt die Bedeutung und Problematisierung von Geschlecht und Identität bei Stirner und Foucault gegenüber. Er liest Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ als mögliche Form der „Technologien des Selbst“ und der Lebenskunst. Der Autor ist bekannt durch zahlreiche Publikationen zum Verhältnis von Anarchismus und Poststrukturalismus.

Der Band wird von Andrea D. Bührmann, seit 2004 Privatdozentin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, abgeschlossen. Bührmann zeichnet im Anschluss an Foucaults Analyse moderner Subjektivierungsweisen und Individualisierungsprozesse den Weg vom Begehrens-Subjekt hin zum unternehmerischen Selbst nach.

Das Spiel der Lüste“ wird eröffnet von meiner Einführung in „Michel Foucaults Machtbegriff“. Dieser Einführungstext ist auch der umfangreichste Text des Sammelbandes. Den Herausgebern erschienen es sinnvoll, an den Anfang einen Text zu setzen, der er interessierten Leserinnen und Lesern ohne Vorkenntnisse erleichtern kann, in Foucaults Terminologie und Arbeitsweise einzusteigen. In meiner Vorstellung des foucaultschen Begriffs der Macht bleibe ich sehr nahe an seinen Schriften (was sich nicht zuletzt an den zahlreichen Fußnoten und Zitaten erkennen lässt). Es wird die zentrale Bedeutung der Machtanalytik für die Betrachtung des Sexualitätsdispositivs, der Körpertechnologien, der Biopolitik, der Selbstsorge und der modernen Subjektivität beleuchtet. Dabei bleibt die Einführung immer dicht an Foucaults Büchern, Schriften und Interviews.

Da ich davon ausgehe, dass die meisten, die am heutigen Tag anwesend sind, mit dem Werk Foucaults schon zumindest ein wenig vertraut sind und wahrscheinlich keine umfangreiche Einführung benötigen, möchte ich meinen zweiten Beitrag „Ordnungen des Sexuellen“ vorstellen. Dieser Text beschäftigt sich mit Foucaults Unterscheidung von (1.) Sades Literatur, (2.) dem „Sadismus“ der Nationalsozialisten und der (3.) sadomasochistischen Subkultur beschäftigt. Diese drei Themen werden aus Foucaults Sicht oftmals unkritisch miteinander vermengt, ohne dabei genau zu differenzieren. Aber an welchen Stellen gibt es tatsächlich Anknüpfungspunkte? Inwiefern unterscheiden sie sich?

Aber zuvor möchte ich noch etwas zum Konzept von „Das Spiel der Lüste“ sagen. Aus Foucaults Perspektive waren sowohl Erotik als auch die moderne Sexualität Formen strategischer Spiele; die Lüste waren für ihn Produkt oder Möglichkeit verschiedener Machtbeziehungen und Diskurse. Die Regeln dieser Spiele konnten ebenso transformiert wie verworfen werden. Ihm ging es nicht darum, die verborgene „Wahrheit des Geschlechts“ zum Vorschein zu bringen oder Menschen zu ihrer Selbstfindung anzuregen, zur Findung einer verschleierten Identität, die tief verborgen liegt und nur aufgedeckt zu werden braucht.

Vielmehr war eines der zentralen Themen Foucaults das Potenzial, neue Lüste zu erfinden, neue Möglichkeiten von Machtbeziehungen und Identitäten zu erproben und „durchzuspielen“.

In den letzten Jahren seines Lebens bekannte sich Michel Foucault offen zu seiner Homosexualität und engagierte sich bis zu seinem Tode im Jahr 1984 für die Schwulenbewegung. Er sah in der Homosexualität eine Möglichkeit, neue Freiheiten individuellen Handelns herzustellen und mit neuen Beziehungen zwischen den Individuen zu experimentieren. Die schwule Lebenskunst sollte es möglich machen, neuartige Formen von Beziehungen und Freundschaften zu fördern und auszukundschaften.

Für Foucault hieß Schwulsein mehr, als nur ein sexuelles Verhältnis zu einer gleichgeschlechtlichen Person zu haben. Hingegen lehnte er die Rede von einer homosexuellen oder heterosexuellen Identität als unbrauchbar ab. Wir brauchen, aus Foucaults Sicht, keine Wissenschaft von der Sexualität, wichtiger ist das offene Spiel von lustvollen – sozialen und sexuellen – Beziehungen. Ein solches Spiel lässt sich auch auf ein Feld außerhalb der sexuellen Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern erweitern. Dabei lehnt Foucault die starre Zentrierung um eine Identität (z.B. die sexuelle Orientierung als „sexuelle Identität“) ab, in der das Subjekt als eine heterosexuelle Konstruktion von Männlichkeit, Ehe, Familie, Fortpflanzungszwang usw. erscheint. Foucault regt uns dagegen dazu an, nicht unser eigenes verborgenes Selbst zu entdecken, sondern neue Formen von Beziehungen zu erfinden. Die Beziehungen zu uns selbst könnten demnach solche der Kreation, der Schöpfung sein. Gegenstand von „Das Spiel der Lüste“ ist also die von Foucault aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Sexualität, Identität und Macht. Diese Fragestellung verbindet die Beiträge der Sammlung.

Foucaults Bücher, Gespräche, Vorlesungen, Interviews und kleinere Schriften sind selbstverständlich keine Ratgeberliteratur. Denn zu einem betont offenen Spiel passen keine Handlungsanweisungen. Auch aus diesem Grunde gibt uns Foucault keine Antwort auf die Frage, wie diese neuen Beziehungen im Einzelnen aussehen könnten. Er verweist auch nicht auf Probleme und Konsequenzen, die sich vermutlich aus diesen Beziehungsformen wieder ergeben könnten. Foucault gibt uns lediglich eine Werkzeugkiste mit auf den Weg, ohne akribische Anweisungen, was zu tun ist. Wie gesagt, „Das Spiel der Lüste“ ist ein offenes Spiel und jede/r muss für sich selbst entscheiden, wie er oder sie spielt, interpretiert, und was man bei dieser Praxis aufs Spiel setzen möchte.

In meinem Beitrag „Ordnungen des Sexuellen“ geht es um Michel Foucaults Unterscheidung von sadistischer Disziplinarmacht und SM-Subkultur.

Sade diente Foucault in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als einzigartiges Beispiel für die Literatur der Grenze, der Überschreitung, der Grenze der Repräsentation: Das Subjekt verschwindet in der Literatur, es wird gespalten, löst sich auf in den Kombinationen und Anordnungen.. Schließlich wird das Subjekt radikal infragegestellt. Den Poststrukturalisten, allen voran Foucault, die sich ablehnend gegenüber humanistischen Ideen zeigten, war Sade ein Vorbild dafür, dass nach Nietzsches Verkündung vom Tod Gottes nun auch der Mensch im Denken des Menschen verschwinden musste.

Auch die Abkehr von einer normierten Sexualität dürfte Foucault interessiert haben. Die Transformierung des Subjekts, das von körperlichen und seelischen Normierungen durchdrungen ist, die Macht, die allgegenwärtig auf das Subjekt zugreift und es formt, das unterworfene und gleichzeitig unterwerfende Subjekt beschreibt Foucault in „Überwachen und Strafen“ (1975; dt. 1977).

Doch Mitte der siebziger Jahre verändert sich Foucaults Perspektive auf Sade. In „Der Wille zum Wissen“ (1976; dt. 1977) beschreibt Foucault einen Zusammenhang zwischen dem Mythos des Blutes, des sogenannten Geblüts der Adligen, und dem modernen Staatsrassismus. Außerdem erkennt Foucault Bezugnahmen und Ähnlichkeiten zwischen Sade als „Menschen der Disziplin“ und der Disziplinarmacht der Nationalsozialisten. Allerdings gab es aus Foucaults Sicht bei den Nazis keine Verknüpfung von Erotik und Macht. Bei ihnen verbindet sich die moderne Disziplinarmacht mit der absoluten Todesmacht, der alten souveränen Macht „sterben zu machen“. Mitte der siebziger Jahre äußerte Foucault in verschiedenen Interviews, dass es im Nazismus keine exzessive Erotik gab. Denn dass Begehrte war die Macht selbst, eine Macht, ungestraft töten zu dürfen, die Macht über Leben und Tod. Wie Georges Bataille geht Foucault davon aus, dass der erotische Exzess nicht zu den Nationalsozialisten passte, denn der Gewaltexzess war im Nazismus niemals außerhalb der Vernunft; er war die perfekte Unmenschlichkeit der Disziplin. Der „Sadismus“ war, laut Foucault, im Nationalsozialismus von jeder Erotik gereinigt.

Umso seltsamer erscheint es, dass in der Pornografie und im Bereich der sogenannten Exploitation-Filme in den siebziger Jahren Titel wie „Ilsa – She-Wolf of the SS“ (1974) und „Salon Kitty“ (1976) auftauchten. Aber auch Pier Paolo Pasolinis „Saló o le 120 giornate di Sodoma“ (1976) zog eine Parallele zwischen Mussolinis faschistischer Diktatur in Italien und Sades Werk „Die 120 Tage von Sodom“. Die Verbindung von Sex und Nationalsozialismus / Faschismus war symptomatisch für eine große Konfusion, die sich in dieser Zeit äußerte. In pornografischen Publikationen und in NS-Exploitation-Filmen wurden sowohl Bezüge zu Sades brutalen, mörderischen Foltermethoden als auch zu modernen sadomasochistischen Praktiken als auch zum „Sadismus“ der Nazis hergestellt. Zur Anreizung der Konsumenten und zur Steigerung der Verkaufszahlen brachte man unterschiedliche Dinge zusammen, die man doch differenzierter betrachten sollte. (Allerdings hielt sich der kommerzielle Erfolg dieser Medien in Grenzen, so dass diese bald wieder aus den Regalen verschwanden.)

Aus Foucaults Sicht unterscheidet sich das moderne sadomasochistische Spiel von Sades „Sadismus“ und dem „Sadismus“ der Nationalsozialisten vor allem dadurch, dass die Machtbeziehungen zwischen den Individuen, die sadomasochistische Praktiken anwenden, keine Gewaltverhältnisse darstellen. Unter einem Gewaltverhältnis versteht Foucault eine Machtbeziehung, die nicht mehr potenziell umkehrbar ist. Für Foucault ist die SM-Beziehung dagegen ein schöpferischer Prozess, ein Spiel mit Machtstrukturen, welches veränderbar bleibt. Faschismus und Stalinismus wären nach Foucault typische Beispiele für ein erstarrtes Gewaltverhältnis ohne die Möglichkeit der Umkehrung.

Aber auch in Sades Texten findet man die souveräne, nicht mehr umkehrbare, gewalttätige Übermacht. Seit Mitte der siebziger Jahre beginnt Foucault Sade weitgehend abzulehnen, weil er an seinen Werken immer mehr deren Gewalttätigkeit kritisiert. Zudem konnten für Foucault die disziplinarischen Techniken, die in Sades Werken beschrieben werden, weder für unsere Gesellschaft noch für einen lustvollen Sadomasochismus Vorbild sein.

Die monströse Übermacht, die souveräne Übermacht, die keine Umkehrung des Verhältnisses zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem zulässt, findet man, Foucault zufolge, in totalitären Systemen wie im Stalinismus und im Faschismus. Bei Sade taucht jedoch noch hin und wieder die Figur des Aufständischen auf, bei den Faschisten sind hingegen die Kräfteverhältnisse vollkommen erstarrt, und es ergeben sich kaum Spielräume für Umkehrung.

Sade ist für Foucault der „Rechnungsbeamte der Ärsche und ihrer Entsprechungen“, ein „Sergeant des Sexes“, der bereits im 18. Jahrhundert eine Erotik der „Disziplinargesellschaft“ formulierte. Was Sades Werke und der Nationalsozialismus gemein haben, sind also die „disziplinarischen Techniken“, welche auf die Individuen einwirken, die verfestigten Machtverhältnisse, welche vielmehr Gewaltverhältnisse sind, die souveräne Macht über Leben und Tod und der „Mythos vom Blut“, auf den ich gleich näher eingehen werde.

Allerdings gab es bei Sades Beschreibung souveräner Machtausübung im Gegensatz zum deutschen Nationalsozialismus keine Bio-Macht der Bevölkerungsregulierung. Der Rassismus des Adels im 18. Jahrhundert kannte noch nicht den modernen, biologisierenden Staatsrassismus. In einem Interview sagt Foucault: „Die Nazis waren Hausfrauen im schlechtesten Sinne des Wortes. Sie werkelten mit Lappen und Besen herum und wollten die Gesellschaft von allem säubern, was sie als Jauche, Staub und Schmutz ansahen: Lustmolche, Homosexuelle, Juden, unreines Blut, Schwarze und Verrückte. Dem Nazi-Traum lag gerade dieser vergiftete Kleinbürgertraum von rassischer Sauberkeit zugrunde.“ Der adlige Mythos vom reinen Blut wird im Rassismus des 19. Jahrhunderts und bei den Nationalsozialisten biologisiert.

Das Geblüt galt dem Adel als Zeichen aristokratischer Souveränität. Dieses Blut wird in Sades Texten lustvoll verströmt. Bei Foucault heißt es: „Blut der Marter und der absoluten Macht, Blut der Standes, das man in sich achtet und doch in der Zeremonie des ‚Vatermordes’ feierlich fließen lässt.“ Aber das adlige Blut wird im 18. Jahrhundert noch als Träger natürlicher Dispositionen, wie Tugend, Mut und Energie, angesehen. Erst im 19. Jahrhundert dient der Mythos oder Diskurs über das Blut einer rassistischen Biologisierung, welche sich auf die Theorie der Entartung stützt. Laut Foucault verbindet sich etwa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Thematik des Blutes, die zuvor vom Adel besetzt war, mit dem modernen Staatsrassismus.

Dieser neuartige Rassismus führt die Analytik der Sexualität und die Eugeniker mit ihrer Symbolik des „reinen Blutes“ zusammen. Um den biologisierenden Rassismus formiert sich eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der gesellschaftlichen Hierarchisierung, des Eigentums und eine lange Reihe ständiger Eingriffe in den Körper, in das Verhalten, in die Gesundheit, in das Alltagsleben. Gerechtfertigt wird die Politik der Bevölkerung durch die „mythische Sorge um die Reinheit des Blutes und den Triumph der Rasse“. Foucault stellt fest, dass sich im deutschen Nationalsozialismus der Mythos des Blutes (als Ausdruck von Souveränität) und die Disziplinarmacht, welche auf die Körper der Individuen einwirkt, miteinander verbanden. Im Nazismus wurden die biologischen Regulierungstechniken der Bevölkerung durch die Bio-Macht sowie die disziplinäre Abrichtung des Körpers des Einzelnen bis aufs Äußerste zusammengeführt und gesteigert.

Einzigartig am Nazismus war allerdings, dass die Bio-Politik der Nazis nicht allein auf die Sorge um die eigene Bevölkerung ausgerichtet war. Foucault erkennt im biologischen Rassismus der Nationalsozialisten etwas, das darüber hinaus geht. Das Naziregime hatte nicht allein die Vernichtung und Unterwerfung anderer Rassen zum Ziel, sondern setzte auch die eigene Bevölkerung einer absoluten und universellen Todesgefahr aus. Vielleicht mag es paradox erscheinen, aber erst durch die vollkommene Auslieferung der gesamten Bevölkerung an den Tod wird sie zur „überlegenen Rasse“. Denn die Überlegenheit, diese Übermacht, erhält die Bevölkerung nicht ausschließlich durch die Vernichtung anderer Rassen, sondern auch durch die Möglichkeit der Selbstvernichtung. Bei Foucault heißt es: „Das Nazismus ist ein absolut rassistischer Staat, ein absolut mörderischer und selbstmörderischer Staat.“

Was den Nationalsozialismus aus Foucaults Sicht einzigartig macht, ist also, dass er Leben produziert, abrichtet, steuert und reguliert. Das verbindet ihn mit der modernen Biopolitik, die bis heute wirkt. Die souveräne Todesmacht, die Macht über Leben und Tod, ist hingegen noch Teil der alten souveränen Diskurses, der bis Ende des 18. Jahrhunderts galt. Im NS-Staat sind Disziplinarmacht und Bio-Macht eng miteinander verknüpft und verbinden sich mit der alten souveränen Macht über den Tod. Wie gesagt, für Foucault gab es im Nationalsozialismus keine Erotik, denn die Macht selbst ist es, die jeder Einzelne begehrt. Der Faschismus hat laut Foucault den Menschen nie etwas anderes gegeben als die Macht, und zwar die Macht zu töten. Jeder konnte im Kleinen seinen Nachbarn denunzieren und ihn dem Tod ausliefern.

Die gegenwärtige Ordnung des Sexuellen lässt sich dagegen nicht mehr mit Begriffen wie „Gesetz“, „Tod“, „Blut“, „Souveränität“ usw. beschreiben. Heute regiert ein anderes Sexualitätsdispositiv. Es herrscht nicht mehr die Souveränität, die Zeit der Souveränität ist zu Ende gegangen, der Kopf des Souveräns wurde abgeschlagen. An die Stelle der Souveränität des Königs hat sich die Norm mit ihren Disziplinierungen, die in die Körper der Individuen hineinwirken, festgesetzt. Als neue Ordnung des Sexuellen erscheint die Normierung und Kontrolle der Sexualität.

Die SM-Praktiken, welche Foucault in den 70er Jahren neu für sich entdeckte, waren für ihn keine „Befreiung“ von unterdrückten Aggressionen. Vielmehr fand Foucault im Sadomasochismus eine Möglichkeit, neue Lüste zu erfinden. Für ihn sind sadomasochistische Praktiken ein Spiel, das auf stillschweigenden Vereinbarungen beruht. Im Gegensatz zum „Sadismus“ der Nazis und Sades „Sadismus“ hat SM, wie Foucault ihn begreift, nichts mit Gewalt zu tun. Im Sadomasochismus wird der Körper erotisiert, neue Körperpartien werden interessant und für das Spiel entdeckt. Foucault schwärmt davon, neue Möglichkeiten der Lust zu erfinden, die sich von den alten Ordnungen des Sexuellen und der Machtausübung unterscheiden:

„Ich denke, dass wir da eine Art Schöpfung, schöpferisches Unternehmen haben, bei denen ein Hauptmerkmal das ist, was ich als Desexualisierung der Lust nenne. Die Vorstellung, dass die physische Lust stets aus der sexuellen Lust herrührt, und die Vorstellung, dass die sexuelle Lust die Grundlage aller möglichen Lüste ist, dies, denke ich, ist wirklich etwas, das falsch ist. Die SM-Praktiken zeigen uns, dass wir Lust ausgehend von äußerst seltsamen Objekten hervorbringen können“.

Darüber hinaus ist der moderne Sadomasochismus für Foucault ein strategisches Machtspiel, welches die gesellschaftlichen Machtbeziehungen nachspielt, und sie sogar umkehrbar macht: „Es ist eine Inszenierung der Strukturen der Macht durch ein strategisches Spielen mit Machtbeziehungen“, welches zu Lustempfindungen verhilft. Zwischen dem, der die Macht ausübt und dem, gegenüber dem die Macht ausgeübt wird, ergibt sich eine neue Offenheit der sexuellen Beziehungen.

In „Der Wille zum Wissen“ fordert Foucault, dass die Körper und die Lüste Stützpunkte gegen die Zugriffe der Macht sein müssen. Gegen das Sex-Begehren setzt Foucault die Körper und die Lüste, das offene Spiel der Lüste gegen das vorherrschende normierende Sexualitätsdispositiv. Foucault wird allerdings nie konkret, wenn es darum geht zu sagen, wie dieser Gegenangriff aussehen soll.

Meint Foucault damit eine „gesellschaftlich unproduktive“ Verausgabung im Sinne Batailles? Etwas, das den Zugriffen der Bio-Macht mit ihrer Zwangsheterosexualität, dem Fortpflanzungszwang, den Instanzen und Institutionen des Macht-Wissens mit ihren Disziplinierungen und Normierungen weitreichend entgeht, diese vielleicht sogar persifliert, umkehrt, mit ihnen spielt? Was soll das überhaupt sein, eine nicht-disziplinierte sadomasochistische Erotik? Sollen wir alle, wollten wir Foucault folgen, nicht nur „homosexuell“, sondern auch „sadomasochistisch“ werden? So könnte man fragen.

Aber es gab auch Dinge, die Foucault an der sadomasochistischen Szene störten: z.B. dass man sich sowohl in der Subkultur als auch in der Pornografie oftmals noch von der alten Bilderwelt der Stiefel, den Schirmmützen und Adlern, den Insignien einer disziplinierten Erotik beeindrucken ließ, anstatt neue Bilder zu schaffen.

Der moderne Sadomasochismus bedeutete für Foucault aber auch (1.) eine Abkehr vom Sex-Begehren und vom Genitalen, (2.) die Entdeckung vernachlässigter Körperpartien, (3.) ein Spiel mit Machtverhältnissen, (4.) die Erfindung neuer Beziehungen, welche nicht normiert sind sowie (5.) neue Wege zu Erzeugung von Lüsten. Foucault sah in SM eine Möglichkeit, sich der Ökonomie des Sexes mit den Normalitätsrichtlinien und Regulierungen (Familie, Fortpflanzungszwang, etc.) zu entziehen.

Im modernen Sadomasochismus entdeckte Foucault eine Strategie, sich „sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihn verbunden ist, zu befreien.“ Er tritt für eine Subjektivität als schöpferische und kritische Praxis ein: „Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.“ Michel Foucaults neue Formen der Subjektivität stellen sich gegen eine „Machtform, die aus Individuen Subjekte macht und kritisiert die gegebenen Formen, in denen sich die Individuen als Subjekte dieser Sexualität (an)erkennen können und müssen.“

Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich meinen Vortrag nicht näher auf Foucaults Beschäftigung mit Bataille sowie die unterschiedliche Aufnahme von Foucaults Sadomasochismus bei Didier Eribon und James Miller näher eingehen konnte. In meinem Buchbeitrag wird dies jedoch thematisiert.

Damit möchte ich schließen und bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(nicht redigierte Vortragsfassung)

THESEN / STICHPUNKTE:

SADES WERKE: schrankenlose Macht, Souveränität, alte, starre Form von Macht, Gewalt, aber Figur des Aufständischen, disziplinierte Erotik, Mythos des Blutes, aber noch kein biologischer Rassismus

NATIONALSOZIALISMUS: Macht und Disziplin ohne Erotik, „Sadismus“ und Gewalt ohne Erotik, biologischer Rassismus und Mythos des Blutes, souveräne Macht und Disziplinierung, moderne Bio-Politik, Biologisierung der Sexualität (schon seit 19. Jh.)

MODERNER SADOMASOCHISMUS: laut Foucault kein Gewaltverhältnis, Spiel mit Lüsten und Machtbeziehungen, kein starres Verhältnis, sondern Möglichkeit der Umkehrbarkeit, Spielfeld für neue Lüste und Erprobung neuer Beziehungen zwischen Individuen

FRAGESTELLUNGEN:

Hat der moderne Sadomasochismus heute das erreicht, was sich Foucault erträumte?

Wie stellt sich Foucault einen SM ohne Disziplinierung und Gewaltausübung vor?
Wie definiert Foucault „Disziplin“ und „Gewalt“?

Was lässt sich von Foucaults Thesen auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die herrschende Ordnung des Sexuellen übertragen?

Was genau versteht Foucault unter „Sex-Begehren“, „Lust“, „Sexualität, „Erotik““?

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Chlada / Jäger (Hrsg.)
Das Spiel der Lüste.
Sexualität, Identität
und Macht bei
Michel Foucault.
Alibri Verlag, Aschaffenburg,
156 Seiten, kartoniert, Euro 16.-
ISBN 3-86569-031-9


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